Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe September'23 -Südlicher Oberrhein

47 9 | 2023 IHK-Zeitschrift Wirtschaft im Südwesten „tickt“ und was Kunden, Lieferanten, Endverbraucher, Mitarbeiter und mögliche Bewerber goutieren. Sind Hochschulen und Kom- munen eher progressiv, müssen andere Branchen das nicht sein. Eine weitere Frage ist, wie konsequent gendersensible Sprache verwendet wird. Reicht es, nur nach außen entsprechend zu kom- munizieren? Dann kommt möglicherweise die Frage auf, warum man es in den eigenen Firmenwänden nicht tut. Will man als Überzeu- gungstäter glaubhaft sein, müssen – streng genommen – alle Ge- schäftsdokumente wie Verträge, Anordnungen, Vorlagen, Berichte angepasst werden. Mit Leitfaden gegen Kraut und Rüben Rainer Witt, Texter und Inhaber der Werbeagentur „agenturwitt“ in Schallstadt-Mengen, merkt an: „Überall, wo Unternehmen kommu- nizieren, braucht es dafür klare Regeln.“ Diese sollten unbedingt für alle Mitarbeiter praktikabel sein – nicht nur für die Sprachprofis aus den Kommunikationsabteilungen. Ein Beispiel: „Häufig bespielen die Azubis die Social-Media-Kanäle mit Inhalten aus ihrem Alltag“, weiß Rainer Witt. „Dafür müssen sie wissen, ob gegendert wird und wenn ja, wie.“ Er rät dazu, in die Erarbeitung eines eigenen Sprachleitfadens oder Sprachleitbilds mit einem Kapitel zum Gen- dern zu investieren – und sich dafür gegebenenfalls professionelle Unterstützung zu holen. Witt hat sich auf die Entwicklung von Markensprache spezialisiert und unterstützt Unternehmen dabei, solche Leitfäden für Sprach- regeln zu entwickeln, mit denen sie nach innen und außen kommu- nizieren. Dazu gehört auch das Gendern – wobei Witt lieber von „inklusiver Sprache“ spricht. „Viele Unternehmen tun sich schwer“, berichtet er, weil „Gendern Sprache politisch auflädt. Firmen sollten sich bewusst darüber sein, dass sie sich mit der Art und Weise, wie sie kommunizieren, immer positionieren – ob sie es wollen oder nicht“. Eine Patentlösung gebe es nicht. „Letztendlich müssen die Argumente abgewogen werden und die Gründe, warum man sich für oder gegen das Gendern entschieden hat, bekannt sein“, so Witt. Der Experte rät, die eigene Belegschaft mit den Leitfäden nicht zu überfordern, optimal sei, sie in den Entscheidungspro- zess einzubinden: „Holen Sie Ihre Mitarbeitenden ins Boot. Alle sollten die Regeln klar erfassen können.“ Verschiedene Varianten abklopfen Auf dem Weg zu einer Entscheidung und einer probaten Handhabung hilft es, die verschiedenen Formen des Genderns genauer unter die Lupe zu nehmen und gedanklich wie praktisch an Kommunikations- beispielen aus dem Unternehmensalltag durchzuspielen. Grundsätz- lich gibt es drei Kategorien jenseits des generischen Maskulins: Die Feminisierung: Beide Geschlechter werden genannt, etwa „Liebe Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter“, wobei bei geschriebener Sprache oft die weibliche Form durch eine Abkürzung hinzugefügt wird (Mitarbeiter/-innen oder MitarbeiterInnen). Die Neutralisierung: Die männliche Form, zum Beispiel „Mitarbeiter“ wird, wenn möglich, durch geschlechterneutrale Formen „Mitarbeiterschaft“ oder durch Substantivierung, etwa „Mitarbeiten- de“, ersetzt. Die Gender-Zeichen: Für die mehrgeschlecht- liche Schreibweise wird zwischen männlicher Form und weiblicher Endung ein Sternchen, Unterstrich oder Doppelpunkt ergänzt, zum Beispiel Mitarbeiter*Innen, Mitarbeiter_Innen, Mitarbeiter:Innen. Die Sonderzeichen sind Platz- halter für alle, die sich weder dem weiblichen noch dem männlichen Geschlecht zuordnen. Lesen mit Bremsklötzen Ein gewichtiges Argument, beim generischen Mas- kulinum zu bleiben: Eine verständliche, lesbare und zugängliche Sprache wird durch Gendern nicht ge- währleistet. Sternchen und Passivkonstruktionen machen Texte länger, komplexer und leseunfreundlicher. Außerdem irritieren Genderzeichen, die Sprachästhetik leidet und die gespro- chenen Pausen klingen unnatürlich. Kurz: Gendern macht Sprache komplizierter. Das wäre der Preis, der zu zahlen wäre. Viele Unternehmen, wie auch die „Wirtschaft im Südwesten“ – möchten sprachlich niemanden benachteiligen und kommunizieren dies auch ausdrücklich so, entscheiden sich aber aus Gründen der Barrierefreiheit trotzdem gegen Zusatzzeichen und Binnengroß- buchstaben, weil das den Lesefluss stört und die Auffindbarkeit durch Suchmaschinen beeinträchtigt. Dass man beim Thema Gendern vermintes Gebiet betritt, zeigt das Beispiel Audi. Ein VW-Mitarbeiter störte sich derart daran, gendersensibel angesprochen zu werden, dass er gegen die Kon- zerntochter Audi klagte. Seine Begründung: Er wolle in Ruhe gelassen werden mit der Gendersprache, auch wenn er für Gleichberechtigung und gegen Diskriminierung sei. Sei- ne Klage ging bis zum Oberlandesgericht München, wo sie Mitte Juli mangels Erfolgsaussichten final zurückge- wiesen wurde. Die Richter befanden, dass es für Gegner von Gendersprache kein Recht gebe, „in Ruhe gelassen zu werden“. Ob so eine öffentliche Auseinandersetzung allerdings zur innerbetrieblichen Akzeptanz von – wie auch immer gearteten – Genderlösungen beiträgt, ist zu bezweifeln. Sie zeugt eher davon, dass im Vorfeld die Mitarbeiter nicht ausreichend ab- geholt wurden – oder dass die ausgearbeitete Lösung noch nicht das Gelbe vom Ei ist. Nina Lipp »Unternehmen müssen sich klare Regeln geben – die für alle Mitarbeiter praktikabel sind« Rainer WItt , Inhaber „agenturwitt“, Schallstadt GENDERN LERNEN UND AUSPROBIEREN Schwerpunktseiten der Gesellschaft für deutsche Sprache : Standpunkt und Leitlinien zum Gendering https://gfds.de/schwerpunkt-gendering Geschicktgendern : Gender-Wörterbuch mit Formulierhilfen und Links zu Handreichungen https://geschicktgendern.de Onlineportal „Gendern in Leichter Sprache – eine Anleitung“: Projekt des Journalistinnenbundes mit Tipps und Übungen www.genderleicht.de/gendern-in-leich ter-sprache-anleitung

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