Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Dezember '19 -Südlicher Oberrhein

12 | 2019 Wirtschaft im Südwesten 7 TITEL D ie Baubranche boomt und damit die Arbeit in vielen Architekturbüros. Lange Tage und kürzere Urlaubs- zeiten sind nicht unüblich. Dazu kommt der Druck, in knapp bemessener Zeit kreativ zu sein. Dem hat die da- mals 34-jährige Architektin vom Bodensee nicht mehr Stand gehalten. „Ich war mit der Aufgabenstellung und den Erwar- tungen an mich überfordert“, erzählt sie. Sie arbeitet gerne exakt, schätzt Routine und Planbarkeit sehr, Spontanität und Zeitdruck weniger. Vor vier Jahren erkrankte die Architektin erstmals an einer Psychose. Sie konnte nicht mehr zwischen Wahn und Wirklichkeit unterscheiden, fühlte sich verfolgt, hörte Stimmen, ging nicht mehr ans Handy, weil sie dachte, es würde abgehört, konnte nachts nicht schlafen. Die Ver- änderungen bemerkte sie zunächst nicht selbst, sondern ihr Freund. Als schließlich ihr Körper mit Zuckungen reagierte, war offensichtlich, dass etwas nicht stimmte. Die junge Frau musste für viele Wochen stationär behandelt werden, bekam Medikamente. Doch noch von der Klinik aus begann sie die Wiedereingliederung in ihren alten Job. „Ich konnte nicht von null auf hundert starten“, erzählt sie. Die Psychopharmaka beeinträchtigten die Konzentration, machten müde. Mit Un- terstützung des Projekts „Supported Employment“ (mehr dazu auf Seite 9) arbeitete sie sich zurück auf ihre volle Stel- le. Zwei Rückfälle erforderten jedes Mal wieder stationäre Behandlungen mit anschließender Wiedereingliederung. Vor knapp zwei Jahren hat die Architektin die Stelle gewechselt, von dem kleinen Architekturbüro zu einem Arbeitgeber mit deutlich mehr Mitarbeitern. Das hat vieles für sie verbessert, vor allem die Arbeitszeit und -belastung. Dennoch warf ein vierter psychotischer Schub sie erneut aus der Bahn. Ihren neuen Arbeitgeber hat sie trotzdem nicht in ihre Krankenge- schichte eingeweiht. „Wer sich damit nicht auskennt, glaubt nicht, dass jemand mit einer Psychose arbeiten kann“, erklärt sie diese Entscheidung. Ihr großer Wunsch ist es, einfach normal ihrem Beruf nachgehen zu können. D as Beispiel der Architektin ist bei Weitem kein Einzelfall. Seit 1997 hat sich die Zahl der Arbeitsausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen mehr als verdreifacht. Laut dem Psychoreport 2019 der Krankenkasse DAK fiel 2017 jeder Versicherte durchschnittlich 2,5 Tage pro Jahr wegen psychischer Belastungen aus; 20 Jahre vorher waren es nur 0,7 Tage. Rund 13 Prozent aller Arbeitsunfähigkeits- tage gehen mittlerweile auf psychische Er- krankungen zurück, sie sind – je nachdem welche Statistik man befragt – die zweit- oder dritthäufigste Ursache für Krank- schreibungen. Der Anstieg ist einerseits eine logische Folge der veränderten Ar- beitswelt. Es gibt immer mehr Arbeitsplät- ze, an denen Zeit(druck) eine Rolle spielt. Belastungen und Stress, ausgelöst bei- spielsweise durch E-Mail-Fluten, nehmen zu. Außerdem erkennen Ärzte seelische Leiden heute besser. Bei der Suche nach Gründen für die Zunahme lässt sich aber auch umgekehrt fragen: Was ist eigentlich psychische Gesundheit? „Das bedeutet nicht einfach die Abwesenheit von psychischen Belastungen oder Er- krankungen. Es gibt kein Alles-oder-Nichts-Prinzip“, sagt Andrea Temme. Die Chefärztin der Psychiatrischen Klinik Reichenau (ZfP) referierte im Herbst bei einer sehr gut besuchten Veranstaltung der IHK Südlicher Oberrhein zum Thema „Verrückt nach Arbeit oder verrückt durch Arbeit?“. Die Mehrheit der Menschen befinden sich laut Temme die meiste Zeit irgendwo zwischen psychisch ge- sund und psychisch belastet beziehungsweise krank. Wir bewegen uns in einem dynamischen Prozess, sind nicht jeden Tag gleichermaßen kreativ und schaffensfreudig. Dass unsere Stimmung schwankt, wir mal ängstlich, traurig, angespannt oder wütend sind, ist völlig normal. Erst wenn andere Symptome hinzukommen, etwa Panik- oder Angstattacken, brauchen Betroffene Hilfe. Und das ist gar nicht so selten: Fast die Hälfte der Bun- desbürger (42,6 Prozent) erleidet im Laufe ihres Lebens eine psychische Störung. Etwa ein Drittel (31,3 Prozent) hatte in den vergangenen zwölf Monaten ein seelisches Leiden und rund ein Fünftel (19,8 Prozent) in den zurück- liegenden vier Wochen. Allerdings sehen Temme und ihre Kollegen in den Kliniken und Praxen nur die sprichwörtli- che Spitze des Eisbergs. Eines ist der Ärztin besonders wichtig: Die Diagnose einer psychischen Erkrankung erlaubt keine Rückschlüsse auf die Arbeitsfähigkeit. An- ders gesagt: Psychische Gesundheit ist keine Voraus- setzung für Arbeitsfähigkeit. „Bei jedem kann das Fass mal voll sein“, sagt Temme. „Viele Menschen arbeiten auch mit psychischen Belastungen oder Erkrankungen.“ W arum wird jemand psychisch krank? „Es gibt nicht die eine Ursache“, betont Tem- me. Es kämen immer viele Faktoren zusam- men – biologische wie die genetische Belastung oder Stoffwechselverände- rungen im Gehirn, zudem spielen fa- miliäre Bedingungen und belastende Erfahrungen wie eine Trennung oder der Tod eines wichtigen Menschen eine Rolle. Das Zusammenwirken der verschiedenen Faktoren bestimmt die Anfälligkeit jedes Einzelnen, auch Ver- wundbarkeit genannt. Und die ist von Mensch zu Mensch sehr unterschied- lich. Manche können mit mehr Stress umgehen, manche mit weniger. Den ei- nen überfordern schon alltägliche Din- ge, der andere gerät erst bei extremer Traumatisierung in psychische Krisen. Zur Illustration ihres „Vulnerabilitäts- Stress-Modells“ verwendet Andrea Temme gerne Fässer, deren Böden unterschiedlich hoch oder tief sind (siehe Grafik Seite 10). Während bei einem hohem Boden das Fass schnell überläuft, kann eines mit tiefem Boden viel Stress und Belastung schlucken. Allerdings lässt sich der Boden auch bewegen, etwa mit sozialer Unterstüt- PSYCHISCHE ERKRANKUNGEN Der Begriff der psychischen Erkrankung umfasst viele verschiedene Krankheitsbilder, die jeweils in unterschiedlichen Schweregraden auftreten kön- nen. Die drei häufigsten Diagnosen in Deutsch- land sind laut einer Studie des Robert-Koch-In- stituts Angststörungen, Alkoholstörungen und Depressionen. Dann folgen Zwangsstörungen, sogenannte somatofome, bipolare, psychotische und posttraumatische Störungen sowie Medika- mentensucht, körperlich bedingte psychische Stö- rungen und Essstörungen. Besonders häufig sind jüngere Menschen betroffen. Mehr als ein Drittel der psychisch Erkrankten ist zwischen 18 und 34 Jahre alt. Eine psychische Erkrankung kann laut Sozialgesetzbuch eine (schwere) Behinde- rung darstellen, und der entsprechende Status kann beispielsweise Lohnkostenzuschüsse und zusätzliche Urlaubstage ermöglichen. »Psychische Gesundheit ist keine Voraus- setzung für Arbeitsfähig- keit« Andrea Temme Chefärztin Zentrum für Psychiatrie Reichenau

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