Wirtschaft im Südwesten - Ausgabe Juli/August '19 - Hochrhein-Bodensee

Wirtschaft im Südwesten 7+8 | 2019 8 titel Dafür stehen zwölf vollautomatisierte Produktions- technologiemodule, vier manuelle Arbeitsplätze und ein hybrider Arbeitsplatz zur Verfügung. Prozesse können also vollautomatisch, manuell oder hybrid ausgeführt werden. In dem zellulär angeordneten Produktionsprozess kann die Reihenfolge der Modul- nutzung je nach Anforderung variieren. Die Produkte beziehungsweise Produktfamilien müssen nicht alle, sondern nur die für ihre Herstellung notwendigen Module durchlaufen, dies aber in der richtigen Rei- henfolge. Die Materialzufuhr erledigen „automatic guided carts“ (AGCs). Wie von Geisterhand bewegt, so scheint es dem laienhaften Betrachter, fahren sie die Module mithilfe von Sensoren an, die sich an auf dem Boden angebrachten Streifen orien- tieren. Alle Abläufe, so demonstrieren die für die Produktion verantwortlichen Ingenieure Volker Zaeh und Joachim Schultis, werden von einer hochleistungsfähigen Software ge- steuert, die bei Sick entwickelt wurde. Als Basis diente das Wissen, das Sick über Jahre im Produktionsmittelbau gewonnen hatte. In der Software sind alle Informationen zum jeweiligen Auftrag hinterlegt, beispielsweise Produkteigenschaften, Stückzahl und Anga- ben dazu, welche Fertigungsschritte an wel- chem Modul notwendig sind. Das System sendet die Informationen an die Maschinen und erhält umgekehrt ständig Rückmeldun- gen. Alle Akteure - Sensoren, Maschinen und Menschen - sind dezentral organisiert, vernetzt und tauschen sich kontinuierlich aus. Alle Daten der 4.0 Factory werden in Echtzeit in der Cloud gesammelt. So entsteht ein virtuelles Abbild der Produktion. Die wichtigsten Leis- tungskennzahlen daraus werden in Form eines cloud- basierten Dashboards für die Anlagenmanager visua- lisiert. Diese können so maximale Transparenz über die aktuelle Leistungsfähigkeit der Produktion und alle Logistikprozesse gewinnen. Jedes Modul hat dabei ei- nen sogenannten digitalen Zwilling, der mit den anderen Zwillingen interagiert. In den gesamten Prozess sind auch Kunden und Lieferanten einbindbar. Zwei Jahre Vorbereitungs- und Aufbauzeit (die Maschi- nen stammen vom bayerischen Hersteller Baumann) waren nötig, bis die Produktion beginnen konnte. Und „es funktioniert“, sagt Bernhard Müller. Beson- ders beeindruckend ist, dass sehr schnell vielfältige und individuelle Kundenwünsche berücksichtigt und selbst kleine Stückzahlen „on demand“ produziert werden können. Und dies, so die Sick-Mitarbeiter, bei Kosten, die denen einer Massenproduktion gleichen. Die ganze Fertigung beschäftigt derzeit 13 Mitarbei- ter (neun Werker und vier Techniker) im Einschichtbetrieb. Mittelfristig will man im Dreischichtbetrieb arbeiten. Die maxi- male jährliche Ausbringungsmenge wird dann bei 1,2 Millionen Stück liegen. Die Durchlaufzeit für eine Bestellung liegt momentan bei durchschnittlich fünf bis sechs Tagen. Auch vier Stunden als schnellstes Resultat sind schon möglich. Das ganze Modell ist Sick-spezifisch. Bernhard Müller betont ausdrücklich, dass es keine allgemeingültige Indus- trie 4.0-Lösung gibt. Die Sick-Lösung ist kaum auf andere Produkte wie zum Beispiel Autos oder Kühlschränke über- tragbar. Die Fabrik arbeitet natürlich mit einer Unzahl von Sick-Sensoren, die in die Module eingebaut sind. Und sie wäre auch ohne die neuen Produktlinien, die hier hergestellt werden, nicht denk- bar. Deren Konstruktion ist ebenfalls auf die neue Fertigungsweise angepasst. Seinen Kunden und an- deren Interessenten hat Sick auf der Hannover Messe vor allem den Mehrwert demonstrieren wollen, den man über eine 4.0 ausgerichtete Fertigung erzielen kann. Zu den Mehrwerten gehört auch die Intelligenz der Sensorik, beispielsweise in Visionsystemen oder Barcodelesern. Die ganze Anlage ist also auch eine Art Werbung für die technologische Füh- rungsrolle von Sick. Nach den Investitionen für die Fabrik gefragt, antwortet Müller: „Das sagen wir nicht.“ Aber – so viel will er doch preisgeben – dass fünf neue (zukünftig zwölf) Linien traditioneller Fertigungstechnologie teurer gewesen wären, als die 4.0 Fabrik. Sie wird sich sehr viel schneller amortisieren, als der üblicherweise zehn Jahre dauernde Ferti- gungszyklus eines Produktes. Die Anlage kann laut Müller als die erste 4.0-fähige Produktion in Deutschland gelten, zumindest kennt er kein anderes Beispiel. Sie repräsentiert den Beginn einer neuen Ära. Müller und sein Team stellen dazu gerne ei- nen Vergleich an: „Die Industrie ist derzeit noch in der ersten Grundschulklasse in der 4.0 Entwicklung. Täglich lernen wir dazu. Bis zum Gymnasium oder gar bis zum Abitur ist es noch weit.“ Ulrich Plankenhorn »Die Industrie ist derzeit noch in der ersten Grundschul- klasse der 4.0 Entwicklung« Bernhard Müller , Geschäftsführung Sick, Freiburg In der 4.0 Fabrik werden derzeit fünf Produktfamilien hergestellt.

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